Entscheidung des BAG zum Antidiskriminierungsrecht

Das Bundesarbeitsgericht hat beurteilt, wann einer Entschädigungsforderung nach § 15 Absatz 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenstehen kann.

Berlin, 05.10.2017 – Mit Urteil vom 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass einer Entschädigungsforderung nach § 15 Absatz 2 AGG der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenstehen kann, wenn sich eine Person ausschließlich auf Stellen bewirbt, die dem Anschein nach nicht diskriminierungsfrei ausgeschrieben wurden.

Der Leitsatz des Gerichts

Neue Entscheidung vom BundesarbeitsgerichtBewirbt sich eine Person nur, um den formalen Status als Bewerber zu erlangen, kann die Entschädigungsforderung nach dem AGG dem durchgreifenden Einwand des Rechtsmissbrauchs ausgesetzt sein.

Darum ging es

Der im Jahr 1953 geborene Kläger ist promovierter Jurist und seit dem Jahr 1988 als Einzelanwalt tätig. Er bewarb sich auf eine Stellenanzeige der Beklagten, einer Anwaltssozietät, in der diese einen "Rechtsanwalt (m/w) mit erster Berufserfahrung oder auch als Berufsanfänger ...mit hervorragenden Rechtskenntnissen" suchte.

Nach Erhalt der Absage machte der Kläger klageweise einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung in Höhe von mindestens drei Bruttomonatsverdiensten à 5.000,00 Euro wegen Altersdiskriminierung gemäß § 7 Absatz 1 AGG in Verbindung mit § 1 AGG geltend.

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen, da der Kläger schon kein Bewerber im Sinne des AGG und für die Stelle objektiv nicht geeignet sei. Auch habe er rechtsmissbräuchlich eine Ablehnung provozieren wollen, um - wie in 15 weiteren Fällen - einen Entschädigungsanspruch geltend zu machen. Das BAG gab der Revision des Klägers statt und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurück.

So entschied das Gericht

Das BAG stellte fest, dass schon das Einreichen einer Bewerbung zur Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs des AGG führt. An dem Erfordernis der "subjektiven Ernsthaftigkeit der Bewerbung" für den Bewerberbegriff nach § 6 Absatz 1 Satz 2 AGG hielt das BAG nicht fest, da es für den formalen Bewerberbegriff unerheblich sei, dass die Person sich nur beworben habe, um eine Entschädigung geltend zu machen.

Auch sei der Entschädigungsanspruch des Klägers nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil er für die zu besetzende Stelle von vornherein objektiv durch die fehlenden "hervorragenden Rechtskenntnisse" nicht geeignet gewesen sei.

Die bisherige Rechtsprechung des Senats, nach der sich eine Person nur dann tatbestandlich in einer vergleichbaren Lage nach § 3 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 AGG befand, wenn sie für die ausgeschriebene Stelle "objektiv geeignet" war, wurde aufgegeben. Könnte nur ein objektiv geeigneter Bewerber eine Entschädigung beanspruchen, wäre die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung - hier die Richtlinie 2000/78/EG - verliehenen Rechte nicht gewahrt.

Aber: Der durch die fehlende Ernsthaftigkeit der Bewerbung rechtsmissbräuchlich erworbenen Bewerberposition könne der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nach § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entgegenstehen. An die Annahme des Rechtsmissbrauchs seien hohe Anforderungen zu stellen. Vorliegend könne weder aus den Bewerbungsunterlagen des Klägers, noch aus seiner offensichtlichen Ungeeignetheit für die angestrebte Stelle und auch nicht aus der Vielzahl anderer Bewerbungen auf Stellen – die scheinbar unter Verstoß gegen § 11 AGG ausgeschrieben wurden – mit anschließender identischer Geltendmachung von Ansprüchen nach dem AGG objektiv auf Rechtsmissbräuchlichkeit geschlossen werden.

Diese liege nur vor, wenn sich ein systematisches und zielgerichtetes Vorgehen des Bewerbers hinsichtlich der Entschädigung feststellen lasse. Das BAG stellte allerdings fest, dass die Tatsache, dass sich eine Person allein oder fast ausschließlich auf Stellenanzeigen bewirbt, die den Anschein der AGG-Widrigkeit erwecken, grundsätzlich bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung ein Indiz dafür sein kann, dass es der Person nur darauf ankam, die Erfolgsaussichten eines Entschädigungsprozesses zu erhöhen.

Bewertung und Folgen für die Praxis

  • Das BAG weitet mit dieser Entscheidung den Anwendungsbereich des AGG grundlos aus. Diese Ausweitung ist vom Unionsrecht nicht geboten und gefährlich. Sie ermutigt betrügerische Bewerber, Entschädigungen geltend zu machen. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache Kratzer (Urteil von 28. Juli 2016; C-423/15) entschieden, dass Personen, die sich in missbräuchlicher Weise auf eine Stelle bewerben, keinen Schadensersatzanspruch und auch keinen Entschädigungsanspruch geltend machen können.
  • Auch die Aufgabe des Tatbestandsmerkmals der objektiven Eignung für das Vorliegen einer vergleichbaren Situation im Sinne des § 3 Absatz 1 AGG ist falsch und von der Richtlinie nicht geboten. Das Urteil des EuGH gibt keinen Anlass zu der Rechtsprechungsänderung. Qualifizierte und nichtqualifizierte Bewerber sind keine sinnvolle Vergleichsgruppe.
  • Zudem überzieht das BAG die Anforderungen an den Rechtsmissbrauchseinwand. Nach dem Urteil des EuGH ist Rechtsmissbrauch anzunehmen, wenn aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen ein ungerechtfertigter Vorteil ist. Eine Vielzahl ähnlich lautender erfolgloser Bewerbungen auf scheinbar gegen das AGG verstoßende Stellenanzeigen und mehrere Entschädigungsprozesse mit jeweils gleichen Forderungen und Klagen sind Ausdruck eines "systematischen Vorgehens" des "Bewerbers".
  • Der Arbeitgeber kann dem Arbeitnehmer rechtsmissbräuchliches Verhalten anhand von Indizien auch künftig entgegenhalten. Nach der Rechtsprechungsänderung des BAG muss er allerdings auf der Rechtfertigungsebene darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass das Bewerbungs- und Einstellungsverfahren systematisch entsprechend den inhaltlichen Vorgaben der Stellenanzeige durchgeführt worden ist. Dies kann dazu führen, dass er das Auswahlverfahren umfassend dokumentieren muss. Ein Indiz kann unter anderem die Kenntnis über betrügerische Versuche sein, bei mehreren Arbeitgebern Entschädigungszahlungen abzupressen. Ebenso besteht die Möglichkeit, etwa durch die konsequente Nutzung bestimmter Qualifikationsvorgaben (juristisches Staatsexamen nicht unter der Notenstufe vollbefriedigend) mutwilligen Bewerbungen zumindest mit dem Einwand des Rechtsmissbrauches zu begegnen.

Formulierungen des BAG dienen als Orientierung 

Wir haben darüber hinaus eine Liste von Formulierungen beigefügt, die vom BAG teils akzeptiert, teils abgelehnt wurden. Diese soll eine Orientierung insbesondere bezüglich beanstandeter Formulierungen im BAG auf Alter, aber auch wegen des Geschlechts oder der Rasse sein.

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