Neue Freiheit in Zeiten von Corona – Modellprojekte auf dem Vormarsch

In der letzten Ministerpräsidentenkonferenz haben sich die Regierungschefs der Länder sowie die Bundesregierung darauf geeinigt, Modellprojekte in ausgewählten Gemeinden anzustoßen. Für Bürger und Händler ist damit die Hoffnung verbunden, endlich wieder ein normales öffentliches Leben führen zu können. Die Stadt Tübingen testet bereits seit gut zwei Wochen ein weitreichendes Öffnungskonzept. Doch was steckt hinter diesen neuen Ansätzen? Wie nehmen die Händler und Bürger diese Konzepte auf? DER MITTELSTANDSVERBUND ist auf die Suche nach Stimmen aus der Mitgliedschaft gegangen.

Brüssel, 26.03.2021: Modellprojekte ermöglichen. In den Ländern und einzelnen Regionen sollen zeitlich befristete Modellprojekte möglich sein – mit strengen Schutzmaßnahmen und einem Testkonzept –, um einzelne Bereiche des öffentlichen Lebens zu öffnen.“ Dieser letzte Punkt der Pressemitteilung der Bundesregierung zum letzten MPK-Beschluss hat es in sich: Seit Tagen zerbrechen sich Städte und Gemeinden den Kopf darüber, in welchem Umfang damit eine Wiederbelebung des öffentlichen Lebens – unter Einhaltung strenger Hygienemaßnahmen und Testkonzepte – nun wieder möglich sein soll. Allein in NRW hat die Stadt Köln, der Kreis Warendorf sowie Winterberg Interesse an einem baldigen Start der Testregion angemeldet. Das Saarland will gar insgesamt Modellregion werden.

Wenn es um die Einzelheiten eines solchen Konzeptes geht, empfiehlt sich in jedem Fall ein Blick nach Tübingen: Boris Palmer, Oberbürgermeister der Stadt Tübingen, hat dort vor gut zwei Wochen ein umfangreiches Konzept zur Öffnung seiner Stadt eingeführt. Der Zugang zur Innenstadt ist nur nach einer Schnelltestung möglich. Nimmt man die teilweise langen Wartezeiten in Kauf, erwartet den Besucher eine in diesen Zeiten äußerst verlockende Zeitreise: Das freie Shoppen, der Besuch von Kaffees und Restaurants, ja sogar Kinobesuche sind – unter Einhaltung der sonstigen Hygienevorschriften (Abstand, Maske, Desinfektion) wieder möglich!

Doch wie nehmen die Händler dieses neue Angebot wahr? Wie sind sie bei der Umsetzung der Konzepte eingebunden? Und wie wird das neue Angebot von den Kunden angenommen? Diese Fragen besprach DER MITTELSTANDSVERBUND mit einigen in Tübingen ansässigen Händlern, deren Stimmen im Folgenden dargestellt werden sollen.

   Christian Klemp, Sprecher der Geschäftsführung, Modehaus Zinser GmbH & Co. KGDer Start der Wiedereröffnung wurde von uns durchaus mit einiger Skepsis gesehen; Bei einer Frequenz von fast 2.500 Kunden an einem normalen Tag fragten wir uns, ob die aufgestellten Teststationen in Tübingen tatsächlich in der Lage seien, dieses hohe Aufkommen überhaupt zu stemmen. Diese Bedenken verflogen jedoch sehr schnell. Die Menschen waren und sind bereit, etwas längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen, um danach diese „neue Freiheit“ umso umfangreicher zu genießen.

Wir als Modehaus müssen vor allem die Einhaltung der bestehenden Hygienekonzepte beachten und die Kunden am Eingang auf ihre Testung kontrollieren. Auch wenn hierfür durchgehend mindestens eine Person abgestellt werden muss, ist der Aufwand weitaus geringer als das vorherige Click&Meet Konzept. Wir standen vor der Öffnung im engen Austausch mit der lokalen Politik, um sicherzustellen, dass das Öffnungskonzept auch in den Geschäften umsetzbar ist.

Nach fast zwei Wochen Wiedereröffnung steht fest: Die Kunden nehmen die Angebote im hohen Maße wahr. Auch wenn es noch etwas kühler war – eine warme Wolldecke reichte, um den Kaffee auf einer der vielen Terrassen zu genießen. Insgesamt nehmen wir ein neues Lebensgefühl wahr, dass sich mit der Aufforderung „Let´s go!! am besten beschreiben lässt. Hierfür braucht es menschlichen Kontakt, der durch nichts zu ersetzen ist.


Philip Renken Geschäftsführer INTERSPORT Räpple (betreibt insgesamt 7 INTERSPORT Häuser und 2 Monolabelstores)Grundsätzlich ist dies (die Wiedereröffnung) ein wirkungsvoller Schritt in die richtige Richtung. Zwar noch etwas eingeschränkt, aber diese teilweise Rückkehr in die Normalität tut den Tübingern gut. Für das Wohlbefinden und die Grundstimmung ist dieser Weg ganz hervorragend – für unsere Kunden und auch für unsere Mitarbeiter. 

Wir werden über den HGV das DRK und das Rathaus gut informiert, sind in die Konzeptionserstellung aber nicht involviert. Derzeit sind wir in enger Abstimmung mit der Stadt um hausintern die Testfähigkeit für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufzubauen. Zusätzlich haben wir natürlich von Desinfektion an allen Eingängen, Luftreinigungsgeräten und der Zählung für die maximale Anzahl an Kunden alles an Vorgaben zu 100 % erfüllt. Damit können wir nahezu uneingeschränkt offenhalten.

Ich bin überzeugt: Wenn ein wenig „Lerneffekt“ einsetzt, führt das zu einer sehr positiven Gewöhnlichkeit. Dennoch sind die Hürden vorhanden und die Umsätze eingeschränkt. Die Frequenz ist – zumindest noch – deutlich geringer als vorher. Die Kunden, die zu uns kommen, sind aber sehr zufrieden und auch ausgesprochen kaufwillig. Sie kommunizieren auch sehr offen und positiv über die Möglichkeit wieder „in echt“ einkaufen zu können. 


Ulrich Dinkel, Geschäftsführer, Dinkel PorzellanMit Blick auf den vorherigen Lockdown ist das neue Konzept der Stadt Tübingen natürlich ein großer Schritt. Fast wie früher können wir uns endlich wieder um den Kunden kümmern. Insgesamt ist die Stimmung weitaus entspannter als noch vor ein paar Wochen.

Das neue Konzept ist auch mit Arbeit für den Handel verbunden: Zur Gewährleistung der Test-Kontrollen müssen insbesondere an umsatzstarken Tagen eine Person abstellen. Hier zeigt sich auch: Je früher die Politik auf aktuelle Geschehnisse reagiert, desto schneller kann sich der Handel auf die neuen Gegebenheiten anpassen.

Insgesamt ist ein großes Durchatmen wahrzunehmen. Die Kunden waren so froh, endlich wieder in den Laden zu gehen und echten Kontakt zu haben. Viele Menschen haben zudem bewusst auf Online-Einkäufe verzichtet, um sich so nicht das „echte“ Einkaufserlebnis zu nehmen: Seit Wochen geplante Anschaffungen können nun endlich im Geschäft vor Ort getätigt werden. Diese Resonanz macht uns natürlich überaus Spaß! 

Der Handel zieht mit

Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Handel - aber auch die Kunden – mittlerweile zu vielem bereit sind, um endlich ein mehr oder minder normales Leben führen zu können. Die Vorgaben der Stadt Tübingen hinsichtlich Einlasskontrolle und Hygienekonzepte wird dabei bedingungslos in den Ladengeschäften umgesetzt. Das Testkonzept wird von den Unternehmern dabei als praktikable Lösung eine „click&meet“-Konzept vorgezogen.

Nach Monaten der Durststrecke ist damit zumindest in Tübingen eine Art Normalität des öffentlichen Lebens zurückgekehrt. Dies ist vor allem das Ergebnis der Selbstdisziplin aller Beteiligten Akteure und der Zivilgesellschaft insgesamt.

Es zeigt sich also, dass Mut, Kreativität und enger Dialog zu den Unternehmern vor Ort durchaus zu einem tragenden Konzept führen kann. Die Hoffnung bleibt, dass sich andere Gemeinden und Kreise diesem Vorbild anschließen werden, um alsbald den Unternehmen aber auch der Gesellschaft insgesamt eine Perspektive zu dem mittlerweile altbekannten „Weiter so – Lockdown“ zu bieten. Anders, als teilweise betitelt, handelt es sich bei dem Modell Tübingen nicht um ein Projekt von „Jugend forscht“. Nach mittlerweile mehr als zwei Wochen hat sich bewiesen, dass mehr Verantwortung der Gesellschaft im Umgang mit der Pandemie nicht gleich im Chaos enden muss.

Belastungen der Gesellschaft sind unausweichlich, die Einhaltung von Hygienevorschriften unerlässlich, um der aktuellen Situation Herr zu werden. Diese Belastungen werden jedoch von allen Akteuren getragen, wenn die Rückkehr in ein normales Leben damit gewährleistet werden kann. Modellprojekte geben eine Perspektive, wie ein Leben auch in Zeiten der Pandemie lebenswert bleibt, ohne dabei die öffentliche Gesundheit zu gefährden. Der Ernst der Lage wird durchweg erkannt und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen finden sich überall.

Zeit also, dass die Politik die Notwendigkeit erkennt, Alternativen zur ständigen Beschränkung des öffentlichen Lebens zu finden. 

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