Warum der Handel andere EU-Länder meidet

36 Prozent der europäischen Unternehmen verkaufen ihre Waren nicht in andere EU-Staaten. Das ergab die Sektoruntersuchung E-Commerce der Europäischen Kommission. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Brüssel, 24.03.2016 — Das Fazit ist auf den ersten Blick ernüchternd: der grenzüberschreitende Handel ist für die meisten Unternehmen in Europa nicht attraktiv. So lautet das erste Ergebnis der Sektoruntersuchung E-Commerce, die im vergangenen Jahr durch die Europäische Kommission gestartet wurde.

Die Untersuchung war notwendig geworden, um die Strategie für einen digitalen Binnenmarkt in Europa vollständig umsetzen zu können. Nun ist klar: bevor die Pläne realisiert werden, liegt noch viel Arbeit vor der Kommission. Diese macht wiederum klar, dass weitere wettbewerbsrechtliche Schritte gegen Unternehmen zu erwarten sind. Auch gesetzgeberische Maßnahmen werden angedeutet.

Wozu eine Sektoruntersuchung?

Bereits im Mai 2015 kündigte die Europäische Kommission an, gegen bestehende Hindernisse im Europäischen Binnenmarkt vorzugehen. Dabei sah und sieht die Kommission das größte Wachstums- und Verbesserungs-Potential im Bereich des elektronischen Handels. In der Sektoruntersuchung E-Commerce wollte sie daher Behinderungen im grenzüberschreitenden elektronischen Handel untersuchen und weitergehende Schritte vorbereiten.

Dabei betonte die Kommission, dass diejenigen Marktteilnehmer, die den Binnenmarkt – online und offline – durch unerlaubte Absprachen behinderten, für die Sektoruntersuchung besonders "interessant" seien. Dieser Bereich und gleichzeitiger Schwerpunkt der Untersuchung wird unter dem Stichwort "Geoblocking" zusammengefasst.

Kritisches Problem: Geoblocking

Damit ist laut der Kommission unternehmerisches Verhalten gemeint, dass Kunden den Zugang zu ihren Webseiten unmöglich oder den Erwerb von Waren und digitalen Inhalten von der Herkunft des Kunden abhängig macht. Geoblocking hat dabei mehrere Erscheinungsformen.

Laut Ergebnissen der Untersuchung sind nun Fälle bekannt, in denen Unternehmen, die in mehreren EU-Mitgliedstaaten Webseiten betreiben, einen Kunden immer auf seine jeweilige nationale Homepage zurückleiten. Auch identifizierte die Kommission Fälle, in denen unterschiedliche Preise für Warenlieferungen und Dienstleistungen, abhängig von der Herkunft des Kunden, aufgerufen wurden.

Bei der Sektoruntersuchung wurden verschiedene Branchen berücksichtigt, darunter Textil, Konsumelektronik, Haushaltswaren, Spielwaren, Kosmetik, Sport sowie Haus und Garten. Befragt wurden neben Händlern auch Online-Marktplätze, Preisvergleichsportale sowie Zahlungsdienstanbieter.

36 Prozent der Unternehmen bleiben im Inland

Insgesamt gaben 36 Prozent der befragten Unternehmen an, ihre Waren und Dienstleistungen nicht grenzüberschreitend zu verkaufen bzw. anzubieten. Besonders auffällig sind die Unterschiede zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten. Demnach bieten Unternehmen aus größeren Mitgliedstaaten tendenziell öfter ihre Waren und Dienstleistungen im EU-Ausland an. Die Entscheidung, seine unternehmerische Tätigkeit auf den jeweiligen Mitgliedstaat zu konzentrieren, war dabei weitestgehend produktunabhängig.

Sprachbarrieren und Unternehmensgröße

Eine Ausnahme ist der Bereich von Computerspielen, bei dem sich Unternehmen laut Kommission tendenziell eher auf den heimischen Markt konzentrieren. Hier zeigt sich ein weiteres Grundproblem des europäischen Binnenmarktes: die unterschiedlichen Sprachen. Kunden bevorzugen Spiele in ihrer Sprache. Ein Angebot im europäischen Ausland macht für diese Produktkategorie also häufig keinen Sinn.

Neben den sprachlichen Barrieren vermutet die Kommission ein weiteres Hindernis des europäischen Binnenmarktes. Demnach würden größere Unternehmen häufiger den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungshandel verhindern, als kleinere Unternehmen. Die Kommission nimmt an, dass dies Anzeichen einer gewollten Marktaufteilung sei.

Online-Marktplätze kurbeln Binnenmarkt an

Neben den Händlern nahm sich die Sektoruntersuchung auch Online-Marktplätze vor. Das Ergebnis sollte die Kommission erfreuen. Denn laut der Befragung sind Unternehmen auf den Plattformen häufiger bereit, Waren und Dienstleistungen grenzüberschreitend anzubieten.

Insgesamt sind diese Zahlen jedoch mit Vorsicht zu genießen. Auch die Kommission gab an, dass im EU-Durchschnitt lediglich 20 Prozent der Kunden Webseiten von Anbietern aus dem EU-Ausland besuchen würden. Dieser Durchschnitt wird wiederum durch fünf Mitgliedstaaten (Schweden, Protugal, Estland, Dänemark und Spanien) aufgewertet, die überdurchschnittlich hoch grenzüberschreitend tätig sind. "Die Kommission bleibt damit den Beweis schuldig, ob das Potential hinsichtlich des grenzüberschreitenden E-Commerce so haltbar ist", kommentiert der MITTELSTANDSVERBUND-Büroleiter aus Brüssel, Tim Geier, die Ergebnisse.

27 Prozent der Händler verweigern EU-Lieferung

Die Ergebnisse der Untersuchung machen allerdings eines deutlich: die unterschiedliche Anwendung des Geoblockings schränkt die Entscheidung, Waren im EU-Ausland einzukaufen, deutlich ein.

Fünf Prozent der befragten Unternehmen verweigern Kunden aus dem EU-Ausland per se den Zugang zu ihrer Webseite. Weitere zehn Prozent würden entsprechende Kunden auf ihre nationale Homepage weiterleiten. Und auch bei der Zahlungsabwicklung stellen sich Händler quer. Knapp 22 Prozent lehnen Zahlungsmethoden aus anderen Mitgliedstaaten ab. Weitere 27 Prozent verweigern sogar die Lieferung ins EU-Ausland, was einen grenzüberschreitenden Einkauf damit deutlich verhindert.

Fehlende Absicherung schafft Misstrauen

"Hier zeigt sich ganz deutlich, wo die Probleme im grenzüberschreitenden Handel tatsächlich liegen", erklärt Geier. Denn grundsätzlich stehe das Bedürfnis des Händlers, seine Warenlieferung entsprechend abzusichern, an oberster Stelle.

Fehlende Kenntnisse bzw. fehlendes Vertrauen in fremde Zahlungsmittel führen auch dazu, dass der Händler die Lieferung seiner Waren ins EU-Ausland nicht entsprechend gesichert sieht, und im Ergebnis einen Vertragsschluss insgesamt ablehnt. "Leider zieht die Kommission diese Schlüsse wenn überhaupt indirekt und kündigt daher auch keine entsprechenden Schritte an", so der Europaexperte.

Unterschiedliche Mehrwertsteuern bleiben Hindernis

Immerhin 25 Prozent der Befragten gaben an, unterschiedliche Preise für Lieferungen im Inland und über die Grenze zu verlangen. Die Begründungen sind allerdings vielfältig. Einige Unternehmen erklärten die unterschiedlichen Preise mit den Lieferanten- oder Herstellervereinbarungen. Andere argumentierten mit den ungleichen Marktstrukturen in den EU-Mitgliedstaaten. Und schließlich seien auch die verschiedenen Mehrwertsteuer-Sätze in den Ländern ausschlaggebend für die Preisgestaltung.  

Gerade bei der Gestaltung der Mehrwertsteuer plädiert DER MITTELSTANDSVERBUND derzeit für eine Vereinfachung der Umsatzsteuer-Regeln in Europa. Auch die Sektoruntersuchung zeigt, dass eine Angleichung des regulatorischen Umfelds für Unternehmen in Europa extrem wichtig ist, um einen wirklichen Binnenmarkt zu schaffen.

Interessant ist auch die Erkenntnis der Kommission, dass auf Marktplätzen seltener unterschiedliche Preise anzutreffen seien. DER MITTELSTANDSVERBUND hält das nicht für verwunderlich: So bedingen eine größere Preistransparenz im Internet einen höheren Preisdruck – auch in Richtung der Vereinheitlichung von Preisen. Allerdings zieht die Kommission auch bedauerlicherweise keine vorläufigen Schlüsse.

Blockieren Lieferanten den europäischen Binnenmarkt?

Rund 12 Prozent der Unternehmen gaben an, durch Vereinbarungen mit Herstellern oder Lieferanten an einem grenzüberschreitenden Angebot gehindert zu sein. Letztere würden in den vertraglichen Vereinbarungen teilweise untersagen, Produkte und Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten anzubieten.

Und auch der Hersteller müsse seine Einwilligung für ein europaweites Angebot abgeben, so die Argumentation der Befragten. Denn Lieferanten und Hersteller würden indirekt auch auf Unternehmensentscheidungen Einfluss nehmen. So gaben einige Händler an, durch Verkaufstops zur Einschränkung ihrer grenzüberscheitenden Aktivitäten veranlasst worden zu sein.

Der Spitzenverband des kooperierenden Mittelstandes weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass viele der beschriebenen Aktivitäten wettbewerbsrechtlich verboten sind. Im Umkehrschluss stellt sich jedoch dann die Frage, ob die Kommission in diesem Bereich überhaupt weitere gesetzgeberische Maßnahmen zur Unterbindung von Geoblocking einleiten muss. Sicherlich werden in der nächsten Zeit kartellrechtliche Verfahren gegen die Unternehmen mit den eben beschriebenen Praktiken eingeleitet werden.

Der größte Teil der befragten Unternehmen scheint sich allerdings unilateral gegen einen grenzüberschreitenden Handel zu entscheiden. Die Kommission kann hierbei regelmäßig nicht auf die Instrumente des Wettbewerbsrechts  zurückgreifen. Fraglich bleibt auch nach den vorläufigen Ergebnissen, wie die Kommission mit einseitigen Unternehmensentscheidungen zukünftig umgehen möchte.

DER MITTELSTANDSVERBUND plädiert in diesem Zusammenhang erneut für die Vervollständigung des EU-Binnenmarktes als wichtigsten Schritt, den grenzüberschreitenden Handel zu fördern. Auch die Kommission stellt richtigerweise fest, dass sich ein EU-weites Angebot aufgrund der dadurch entstehenden Kosten – angefangen für die Übersetzung der Homepage in alle EU-Sprachen bis hin zur Akzeptanz aller Zahlungsarten – wirtschaftlich schlichtweg nicht lohnt.

Wie geht es weiter?

Die Europäische Kommission hat mit den Ergebnissen nun wichtige Erkenntnisse vorliegen, die nach Ansicht des MITTELSTANDSVERBUNDES nur einen Schluss zulassen: Wichtige Regeln für die Unternehmen müssen weiter vereinheitlicht werden, um den grenzüberschreitenden Handel, vor allem für mittelständische Betriebe, zu erleichtern.

Außerdem muss die Kommission den Grundsatz der Vertragsfreiheit bedingungslos gewährleisten, um das gutgemeinte Ziel der Stärkung des EU-Binnenmarkts nicht durch Streichung eines der wichtigsten Grundprinzipien der EU zu konterkarieren.

Bis Mai wird die Kommission eine Mitteilung vorlegen, in der weitere Schritte zur Bekämpfung von Geoblocking angekündigt und zur Diskussion gestellt werden. DER MITTELSTANDSVERUND wird sich im Sinne des kooperierenden Mittelstandes an diesem Dialog beteiligen.

Seite drucken

Zurück zur Übersicht