Digitalisierung und EU-Wettbewerbsrecht – Neues Gutachten der Expertenkommission
Ist der bestehende EU-Rechtsrahmen in Zeiten aufkommender Plattformökonomie noch angemessen? Dieser Frage widmeten sich drei von der EU-Wettbewerbskommissarin beauftragte Experten in einer jüngst veröffentlichten Studie. Die darin gefundenen Ergebnisse haben insbesondere für Verbundgruppen Relevanz.
Brüssel, 12.04.2019 – Irgendwie ist es dann doch anders mit der digitalen Ökonomie: Anders als Waren, lassen sich Informationen beliebig vervielfachen und können einfach übertragen werden. Eigentlich sind dies perfekte Grundvoraussetzungen für einen blühenden Wirtschaftszweig. Doch es zeigt sich: Das Internet boomt, oftmals profitieren davon aber nur einige wenige. Zwar gehen derzeit nationale und europäische Wettbewerbsbehörden verstärkt gegen große Plattformbetreiber vor. Immer öfter stellt sich jedoch die Frage, ob dies ausreicht.
Auch die EU-Wettbewerbskommissarin, Magrethe Vestager, sah und sieht potentielle Beschränkungen des Wettbewerbs: „Beim Schachspiel spielen alle dasselbe Spiel. Doch nur der Meister kann 20 Schritte im Voraus denken. Das gibt ihm einen entscheidenden Vorteil. Heutzutage sind es Daten, die uns zu Meistern machen können. Doch wenn nur eine Handvoll Unternehmen diese Daten besitzt, hat der Rest keine Chance.“, so sinngemäß das Credo Vestagers.
Aus diesem Grund berief die Wettbewerbskommissarin bereits im letzten Jahr eine Expertenkommission zusammen. Ihr Auftrag: Die Identifizierung der kritischen Stellen zwischen digitaler Wirtschaft und Wettbewerbsrecht. Am 04. April 2019 stellte die Kommission ihre Ergebnisse vor. Das Credo: Änderungen sind notwendig – aber in welchem Grad unterliegt der weiteren Analyse dieses Wirtschaftszweigs.
Attribute der Digitalen Wirtschaft
Die Experten stellten zunächst die Besonderheiten der digitalen Wirtschaft gegenüber „klassischen“ Geschäftsmodellen heraus:
- Die digitale Wirtschaft zeichne sich zunächst damit aus, dass ein extremes Missverhältnis von Aufwand und Nutzen bestehe: Die anfänglichen Kosten zum Aufbau der Infrastruktur würden danach den Nutzen bei weitem unterschreiten. Etablierte digitale Geschäftsmodelle hätten damit einen wesentlichen Vorteil gegenüber Neueinsteigern.
- Ein weiterer Vorteil etablierter Geschäftsmodelle bestehe in den oftmals auftretenden Netzwerkeffekten: Der Nutzen einer Anwendung steigt entsprechend der Zahl der Kunden.
- Daten sind essentiell für die neuen Geschäftsmodelle. Doch gleichermaßen wichtig sei dabei das Wissen, diese Daten gewinnbringend einzusetzen.
Grundsätzliche Maßnahmen
Die Experten kommen zu dem Schluss, dass eine Reihe von Maßnahmen helfen könnte, Ungleichgewichte auf dem Markt zu beheben. So müssten zunächst die Definitionen und Schwellen von Marktanteilen in der wettbewerbsrechtlichen Betrachtung überdacht werden: Die klassischen Berechnungsmethoden von Marktmacht – und die entsprechende Feststellung, dass ein Unternehmen wettbewerbswidrig handelt – ließen sich danach nicht 1:1 auf die Digitalwirtschaft übertragen. Die wettbewerbsrechtliche Betrachtung müsse vielmehr einen Schwerpunkt darauflegen, welches Verhalten in welcher Konstellation potentiell wettbewerbsschädigend sein kann.
Entsprechend angepasst werden müsste danach auch die Berechnung des Verbraucherwohls. Es sei zu überlegen, ob potentiell wettbewerbsschädigende Verhaltensweisen nicht per se unter ein Verbot gestellt werden müssten, welches anschließend von dem jeweiligen Unternehmen durch den Nachweis eines gegenüberstehenden Verbraucher-Mehrwerts gerechtfertigt werden könnte.
Auch hier stellen die Experten jedoch heraus, dass eine genauere Abgrenzung der erheblichen Tatsbestände zu erfolgen hat.
Plattformen
Nach Ansicht der Experten sollte im Bereich Plattformen der Erhalt von Wettbewerb (zwischen einzelnen Plattformen) das Hauptziel neuer Gesetzgebung beziehungsweise Rechtsdurchsetzung sein. Dies könne vor allem durch eine Erhöhung von Daten-Portabilität der Nutzer sowie einer besseren Interoperabilität zwischen den einzelnen Plattformen erreicht werden. Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Eigeninitiative der Plattformen selbst. Durch Selbstverpflichtungen und besserer Kooperation könnte so bereits ein Großteil der momentan bemängelten Ungleichgewichte behoben werden.
Daten
Daten sind Dreh- und Angelpunkt der Internet-Wirtschaft. Das Sammeln und Verwenden von Daten ist nach Ansicht der Experten dabei grundsätzlich Wettbewerbs- und Innovationsfördernd. Eine grundsätzliche Pflicht zum Teilen von Daten sei zumindest nach heutigem Wissensstand nicht gerechtfertigt. Zwar seien Situationen denkbar, in denen ein Unternehmen einem anderen Unternehmen unrechtmäßig den Zugang zu Daten verwehre, die Beurteilung solcher Fälle sie jedoch immer Gegenstand einer Einzelbetrachtung.
Wichtiger sei vor allem das Schaffen einheitlicher Standards bezüglich Schnittstellen und Formaten zum Daten-Austausch. Damit könnten bereits heute viele Schranken im Austausch mit Daten durchbrochen werden. Die Experten setzen dabei auf Selbstverpflichtungen der Internet-Wirtschaft.
Hinsichtlich des Teilens beziehungsweise des freiwilligen Poolings von Daten gebe das Wettbewerbsrecht bereits heute Schranken vor, die beachtet werden müssten. Das Teilen von Daten ist danach nur zulässig, soweit kein Austausch wettbewerbsrechtlich sensibler Daten erfolge (Konditionen, Preise) und keine Kollusion zwischen Wettbewerbern erleichtert würde. Handlungsbedarf sehen die Experten dabei nicht.
Fazit
Auch die Experten scheinen bei ihrem Gutachten zu dem Schluss zu kommen, dass es noch kein abschließendes Verständnis der Mechanismen im digitalen Zeitalter gibt. Input aus der Wirtschaft ist daher wichtiger denn je. Auch DER MITTELSTANDSVERBUND stellt derzeit eine Übersicht der rechtlichen Möglichkeiten und wirtschaftlichen Notwendigkeiten im Bereich Big Data zusammen. Die Ergebnisse werden direkten Eingang in die weitere Arbeit der Europäische Kommission finden.
Auch die EU-Gesetzgeber müssen dabei verstehen, dass der Daten-Austausch gerade im Verbund zukünftig absolute Grundvoraussetzung für die Zukunft mittelständischer Unternehmen sein wird. Nur mithilfe ihrer Kooperation können Daten-getriebene Geschäftsmodelle Mittelständlern dabei helfen, im Wettbewerb mit größeren Marktteilnehmern zu bestehen.