EuGH: Anwendung des Diskriminierungsverbotes auf Arbeitnehmer, die für Behinderte zu sorgen haben

Der Europäische Gerichtshof hat dieAntidiskriminierungsrichtlinien bezüglich des Merkmals "Behinderung"sehr weitausgelegt.Nicht der betroffene Arbeitnehmer selbst müsse behindert sein, um sich auf den Schutz der Richtlinie berufen zu können - der personelle Anwendungsbereich der Richtlinie erfasse auch Fälle, in denen der Arbeitnehmer diskriminiert werde, weil er für einen Behinderten zu sorgen habe.

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 17. Juli 2008 - C-303/06 (S. Coleman)dieAntidiskriminierungsrichtlinien bezüglich des Merkmals "Behinderung"sehr weitausgelegt.Nicht der betroffene Arbeitnehmer selbst müsse behindert sein, um sich auf den Schutz der Richtlinie berufen zu können - der personelle Anwendungsbereich der Richtlinie erfasse auch Fälle, in denen der Arbeitnehmer diskriminiert werde, weil er für einen Behinderten zu sorgen habe.

  • Leitsätze

1. Die Richtlinie(...) zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf(...) istdahin auszulegen, dass das dort vorgesehene Verbot der unmittelbaren Diskriminierung nicht auf Personen beschränkt ist, die selbst behindert sind. Erfährt ein Arbeitnehmer, der nicht selbst behindert ist, durch einen Arbeitgeber eine weniger günstige Behandlung, als ein anderer Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde, und ist nachgewiesen, dass die Benachteiligung des Arbeitnehmers wegen der Behinderung seines Kindes erfolgt ist, für das er im Wesentlichen die Pflegeleistungen erbringt, deren es bedarf, so verstößt eine solche Behandlung gegen das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung (...).

2. Die Richtlinie(...) istdahin auszulegen, dass das dort vorgesehene Verbot der Belästigung nicht auf Personen beschränkt ist, die selbst behindert sind. Wird nachgewiesen, dass ein unerwünschtes Verhalten, das eine Belästigung darstellt und dem ein Arbeitnehmer ausgesetzt ist, der nicht selbst behindert ist, im Zusammenhang mit der Behinderung seines Kindes steht, für das er im Wesentlichen die Pflegeleistungen erbringt, deren es bedarf, so verstößt ein solches Verhalten gegen das Verbot der Belästigung (...).

  • Sachverhalt

Die Klägerin arbeitete seit Januar 2001 als Anwaltssekretärin für eine Anwaltskanzlei in London. Im Jahr 2002 wurde sie Mutter eines behinderten Kindes, dessen Gesundheitszustand eine spezialisierte und besondere Pflege erfordert, die im Wesentlichen von ihr geleistet wird. Im Jahre 2005 stimmte sie einer freiwilligen Entlassung zu, wodurch der Vertrag mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber beendet wurde. Am 30. August 2005 reichte sie beim Employment Tribunal London South eine Klage ein. Sie sei als Hauptbetreuerin eines behinderten Kindes Opfer einer erzwungenen sozialwidrigen Kündigung geworden.

Die Klägerin stützte ihr Klage auf mehrere Vorkommnisse, die nach ihrer Ansicht eine Diskriminierung oder Belästigung darstellten, da Eltern nicht behinderter Kinder unter vergleichbaren Umständen anders behandelt worden seien. Sie macht unter anderem geltend, dass ihr Arbeitgeber sich geweigert habe, sie nach der Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub an ihren früheren Arbeitsplatz zurückkehren zu lassen, dass ihr keine flexiblen Arbeitszeiten gewährt worden seien und dass es unangemessene und verletzende Bemerkungen sowohl in Bezug auf sie selbst als auch in Bezug auf ihr Kind gegeben habe.

Das Employment Tribunal hat sich an den EuGH mit der Frage gewandt, ob die Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000/78/EG) dahingehend auszulegen ist, dass sich eine unmittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung und eine Belästigung im Zusammenhang mit einer Behinderung nur gegenüber einem Arbeitnehmer verbietet, der selbst behindert ist, oder ob sie auch für einen Arbeitnehmer gilt, der wegen einer Behinderung seines Kindes benachteiligt wird, für das er im Wesentlichen die Pflegeleistungen erbringt, die dessen Zustand erfordert.

  • Entscheidungsgründe

Der EuGH legt die Richtlinie so aus, dass das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung nicht auf Personen mit einer Behinderung beschränkt sei. Erfahre demnach ein Arbeitnehmer, der nicht selbst behindert sei, durch einen Arbeitgeber eine weniger günstige Behandlung als ein anderer Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation und sei nachgewiesen, dass die Benachteiligung des Arbeitnehmers wegen der Behinderung seines Kindes erfolgt sei, für das er im Wesentlichen die Pflegeleistung erbringen müsse, so verstoße eine solche Behandlung gegen das in der Richtlinie enthaltene Verbot der unmittelbaren Diskriminierung.

1. Diskriminierung

Nach Ansicht des EuGH enthalte die Richtlinie zwar einige Bestimmungen, mit denen speziell den Bedürfnissen behinderter Menschen Rechnung getragen werden solle. Daraus könne aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der dort verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz restriktiv auszulegen sei, also in dem Sinn, dass er nur unmittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung verbiete und ausschließlich Menschen mit Behinderung selbst beträfe. Die Richtlinie, die darauf gerichtet sei, jede Form der Diskriminierung zu bekämpfen, gelte nicht für eine bestimmte Kategorie von Menschen, sondern in Bezug auf die Natur der Diskriminierung. Eine Auslegung, nach der ihre Anwendung auf Personen beschränkt sei, die selbst behindert sind, könne der Richtlinie einen großen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit nehmen und den Schutz, den sie gewährleisten soll, mindern.

2. Belästigungsverbot verletzt

In Bezug auf die Belästigung seien die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie ebenfalls nicht auf Personen beschränkt, die selbst behindert sind. Werde nachgewiesen, dass ein Arbeitnehmer in der gleichen Situation wie Coleman einem unerwünschten Verhalten ausgesetzt sei, das eine Belästigung darstelle, so verstoße ein solches Verhalten gegen das in der Richtlinie enthaltene Verbot der Belästigung.

3. Beweislast

Soweit die Klägerin Tatsachen glaubhaft machen könne, die das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, verlange die tatsächliche Umsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, dass die Beweislast bei ihrem Arbeitgeber liege. Dieser müsse dann beweisen, dass dieser Grundsatz nicht verletzt worden sei.

  • Bewertung / Folgen der Entscheidung

Mit dem vorliegendem Urteil weitet der EuGH seinen Schutz vor Diskriminierung massiv aus. Dies ist unter dem Blickwinkel der Beweislastumkehr besonders problematisch. Diese soll eintreten, wenn der Kläger Tatsachen glaubhaft machen kann, die das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung vermuten lassen. Der Arbeitgeber müsste sodann beweisen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist.

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