Brexit: So geht es weiter mit der EU

Großbritanniens Wähler wollen nicht länger in der EU bleiben. Was sind die Folgen? Und wie geht man weiter vor? Ein Aufklärungsversuch.

Brüssel, 08.07.2016 - Das Votum der britischen Bürger steht fest: 51,9 Prozent der Wähler votierten am 23. Juni für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union.

Wie geht's nun weiter?

Der Austritt eines Mitgliedstaates aus der EU ist grundsätzlich in dem Vertrag von Lissabon geregelt – irgendwie jedenfalls. Die jetzige Situation, in der Großbritannien noch kein offizielles Austrittsersuchen gestellt hat, lässt viel Platz für Interpretationen und noch mehr Platz für Spekulationen.

Auf dem Europäischen Rat der Mitgliedstaaten, der am 28. und 29. Juni in Brüssel tagte, haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU über die neue Situation beraten.

Das erste klare Signal in Richtung Downing-Street erfolgte bereits am zweiten Sitzungstag: Die Vertreter der 27 verbleibenden Mitgliedstaaten tagten in der informellen – und vielleicht auch bald der ständigen – Formation ohne Großbritannien weiter. Die ersten Verlautbarungen nach dieser Sitzung waren eindeutig: Die Staats- und Regierungschefs bereiten sich auf einen Austritt Großbritanniens aus der EU vor. Vorbereitung ist hierbei das richtige Wort, denn bislang ist formal-rechtlich noch nichts passiert. Dennoch kann von „business as usual“ wohl kaum die Rede sein.

Exit-Klausel: Die Uhr tickt

Mit der Einführung des Vertrags von Lissabon im Jahre 2007 erfuhr die Europäische Union einige grundlegende Neuerungen. Bestandteil der neuen Regeln ist nunmehr auch eine Exit-Klausel, eine Regelung also, nach welchem Verfahren ein Mitgliedstaat aus der EU austreten kann.

Demnach muss ein Staat den Wunsch eines EU-Austritts beim Rat der EU anmelden. Dieser leitet danach die Verhandlungen mit dem Austrittsland ein. Ab dem Zeitpunkt der Mitteilung tickt auch die Uhr: Nach Ablauf von insgesamt zwei Jahren, gerechnet ab Mitteilung des Austrittsstaates, tritt dieser automatisch aus der EU aus. Anderes gilt nur, wenn sich die EU-Mitgliedstaaten auf eine abweichende Regelung mit dem EU-Staat einigen.

Großbritannien muss deshalb eine offizielle Mitteilung an den Rat der EU übergeben, damit das Prozedere in Gang gesetzt wird. Aufgrund politischen Kalküls, aber auch mit Blick auf die ambivalente politische Lage in Großbritannien, ist das bislang noch nicht geschehen.

Cameron spielt auf Zeit

Der noch bis Oktober amtierende britische Premierminister, David Cameron, hoffte zunächst auf informelle Gespräche mit seinen europäischen Amtskollegen.Als Ergebnis der vergangenen Ratsverhandlungen steht jedoch fest: Das lässt der Rat nicht mit sich machen.

Die Staats- und Regierungschefs werden daher erst mit Großbritannien über die Austrittsbedingungen verhandeln, wenn die offizielle Note ergangen ist.

Wer macht was?

Ein kleiner „Nebenkriegsschauplatz“ hat sich zudem zwischen Rat und Kommission eröffnet. Aufgrund der offenen Formulierung des Artikels 50 des Vertrags von Lissabon ist die Kommission der Auffassung, dass ihr die Leitung der Verhandlungen obliegt. Der Rat ist hingegen der Auffassung, dass er die Austrittsverhandlungen führt. Die 27 Mitgliedstaaten haben bereits den belgischen Diplomaten, Didier Seeuws, zum Chef-Unterhändler ernannt – ganz zum Ärger der Kommission. Diese befürchtet nämlich, dass Verhandlungen unter der Regie des Rats zu mehr Konzessionen gegenüber England führen. Die Staats- und Regierungschefs würden versuchen, Großbritannien als Exportland weiterhin umfassend und vor allem zollfrei bedienen zu können.

Klar ist jedoch auch, dass nur letztere das technische / technokratische Wissen hat, um die Verhandlungen sauber zu führen – eine Einschätzung, die auch der Rat teilt, indem er sagt, dass die Verhandlungen in jedem Fall in enger Zusammenarbeit mit der Kommission erfolgen werden.

Unabhängigkeit Schottlands

Das Austritts-Referendum hat möglicherweise auch Konsequenzen für die innenpolitische Lage in Großbritannien. Schottland, als Teil Großbritanniens mit einem hohen Maß an Selbstverwaltung ist traditionell pro-europäisch. Es verwundert daher nicht, dass das Gros der schottischen Bevölkerung für den Verbleib in der EU gestimmt hat. Erwartungsgemäß reiste die schottische Delegation zu den Ratsverhandlungen, um einen möglichen Verbleib Schottlands in der EU zu diskutieren.

Die Staats- und Regierungschef zeigten der schottischen Delegation jedoch die kalte Schulter. Zum einem müsste Schottland zunächst ein eigenes Referendum über den Austritt des Landesteils aus Großbritannien abhalten – ein Unterfangen, dass bereits 2014 versucht, jedoch knapp gescheitert war. Zum anderen gilt auch hier: Kein Antrag Großbritanniens – keine Verhandlungen mit der EU.

Auswirkungen des Brexit auf andere Länder der EU

Für einige Länder dürfte es mit einem Austritt Großbritanniens aus der EU schwer werden, ihre Interessen weiterhin mit der gleiche Stärke zu vertreten. So im Falle Schweden und Dänemarks, die beide gegen die Einführung des Euro gestimmt haben.

Das niederländische Parlament hatte die Forderung des Rechtspopulisten, Geerd Wilders, nach einem eigenen Referendum bereits zurückgewiesen. Wie sich das Land weiter verhalten wird, bleibt hingegen abzuwarten.

Zukünftiges Verhältnis zwischen EU und UK

Kein Thema findet derzeit mehr Aufmerksamkeit in den Medien, als das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien. Einige Basisszenarien zeichnen sich dabei ab.

Einfachstes Szenario dabei: vollständiger EU-Austritt und Ausschluss aus dem Binnenmarkt. Dadurch wäre England „nur“ noch als Drittland zu behandeln, mit allem, was dazu gehört: Keine Grundfreiheiten mehr (freier Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Finanzverkehr) und der Aufbau von Import- und Exportzölle auf beiden Seiten. Gerade vor der Abschaffung des einheitlichen Finanzmarkts dürfte Großbritannien Angst haben. Anmerkungen englischer Politiker zielen daher auch darauf ab, zumindest diesen Teil des Binnenmarktes zu erhalten.

Merkel warnt vor Rosinenpickerei

Bundeskanzlerin Angela Merkel, aber auch andere Staats- und Regierungschefs der EU haben jedoch deutlich gemacht: es wird keine Rosinenpickerei geben. Den Binnenmarkt mit seinen Grundfreiheiten wird es nur als Gesamtpaket geben.

Denkbar wäre auch, dass Großbritannien dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beitritt, wie es beispielsweise Norwegen getan hat. Das Land nimmt am Binnenmarkt teil, ohne EU-Mitglied zu sein. Was auf den ersten Blick schön klingt, hat bei näherer Betrachtungsweise einen essentiellen Hacken:

Mitglieder des EWR können nicht über neue europäische Gesetze mitbestimmen, müssen diese jedoch weitestgehend in nationales Recht umsetzen. Zudem wird die EU Zahlungen von Großbritannien für den Zugang zum Binnenmarkt verlangen, die in etwa den jetzigen Zahlungen des Landes entsprechen würden. Betrachtet man die vielen Ausnahmen, die Großbritannien heute bereits genießt, wäre dieses Szenario im besten Fall ein Nullsummenspiel.

England könnte zudem dem Schweizer Modell folgen; die Schweiz gehört nicht dem EWR an, hat aber zahlreiche bilaterale Abkommen mit den einzelnen EU-Staaten ausgehandelt. Ein solcher Schritt ist langwierig und äußerst mühselig. Es ist daher fraglich, ob sich die EU auf einen solchen Schritt einlassen wird.

Fazit

Momentan scheint noch alles offen – selbst ein Verbleib Großbritanniens in der EU wird in Brüssel immer lauter diskutiert. Erste Kollateralschäden sind bereits bemerkbar. So haben Unternehmen wie Easyjet und Vodafone bereits angekündigt, ihre Firmen-Hauptsitze nach Deutschland zu verlegen. Auch die Londoner Finanzwelt harrt der Dinge, die da kommen.

Was den EU-Alltag angeht, herrscht jedoch normaler Betrieb. Alle Institutionen arbeiten wie gewohnt weiter – bis auf die englischen Europaparlamentarier und schätzungsweise 1.500 englischen Kommissionsbeamten, die teilweise bereits Doppelstaatsbürgerschaften beantragt haben. Auch viele Verbände und Nicht-Regierungsorganisationen rätseln über ihre Zukunft in Brüssel. Bereist hier zeigt, sich, dass die europäische Integration weit vorangeschritten ist und eine Umkehrung äußerst schwierig sein wird.

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