So schaden Grenzkontrollen der deutschen Wirtschaft

Die Flüchtlingspolitik entzweit die EU und das Schengen-Abkommen wird zeitweise ausgesetzt. Was passiert, wenn die Staaten wieder Grenzkontrollen einführen? Für die Wirtschaft wäre das teuer.

Brüssel, 24.02.2016 — Kaum eine Errungenschaft des Europäischen Binnenmarkts wird in der Flüchtlingskrise derzeit so hinterfragt, wie der freie Personenverkehr. Dieser basiert auf dem 1985 geschlossenen Schengen-Abkommen. Der Schengen‐Raum umfasst zurzeit 22 EU-Staaten sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz als Nicht-EU-Staaten.

Das Schengen-System umfasst zwei wesentliche Regeln:
  • Die Schengen-Staaten sehen davon ab, an ihren Binnengrenzen Personenkontrollen durchzuführen.
  • An den Schengen-Außengrenzen werden einheitliche Kontrollen nach genau festgelegten Kriterien durchgeführt.

Doch der anhaltende Flüchtlingsstrom lässt das Abkommen wanken. Auch die Bundesrepublik sah sich gezwungen, an  der Grenze zu Österreich wieder Kontrollen einzuführen. Diese Maßnahme geht konform mit dem Schengener-Grenzkodex:  Im Falle außergewöhnlicher Umstände, die das Schengen-System insgesamt gefährden, können die Mitgliedstaaten Kontrollen an den Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum wieder einführen.

235 Milliarden Euro Mehrkosten bis 2025

Doch was passiert, wenn ein Mitgliedstaat komplett "dicht macht"? Die Bertelsmann-Stiftung nahm sich den Extremfall vor. In einer Studie baut die Organisation ein Szenario auf, in dem zunächst lediglich die Grenzkontrollen wiedereingeführt würden. Andere Regelungen, wie die Zollfreiheit im Binnenmarkt wurden zunächst als weiter bestehend vorausgesetzt.
 

Die Ergebnisse erschrecken: Bis 2025 könnten 235 Milliarden Euro Mehrkosten auf die Mitgliedstaaten zukommen. Ein ordentlicher Dämpfer für die immer noch fragile Lage vieler Volkswirtschaften in der EU.

Die stärksten Auswirkungen einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen sind nach den Ökonomen in der Lieferkette zu erwarten. Die Kontrollen würden lange Warteschlangen an den Grenzen verursachen. Neben Pendlern würden vor allem LKW-Fahrer betroffen sein.

Längere Lieferzeiten bedrohen den Einzel- und Großhandel

Für den Einzel- und Großhandel eine absolute Katastrophe: Aufgrund der offenen Grenzen des EU-Binnenmarktes beziehen viele Händler ihre Waren aus dem EU-Ausland. Durch Optimierungen der Lieferkette wurden große Lagerbestände in vielen Sektoren dadurch obsolet. Die Waren werden punktgenau aus Spanien, Frankreich oder etwa den Niederlanden angeliefert.

Das würde sich ändern. Denn längere Lieferzeiten wären eine direkte Folge der Grenzkontrollen. Und damit nicht genug: Auch die Personalkosten würden steigen. Gleichzeitig müssten die Lagerbestände wieder aufgestockt werden – ein weiterer äußerst unangenehmer Kostenfaktor für die Unternehmen. Die Kosten müssten dann auf die Waren umgelegt werden. In der Konsequenz würde sich das reale Einkommen der Privathaushalte und Unternehmen verringern, die dann weniger konsumieren und investieren würden. Höhere Lohnforderungen wären die Folge.

Deutsche Wirtschaft mit 77 Milliarden Euro belastet

Nach den Ergebnissen der Bertelsmann-Stiftung würde allein diese Lohn-Preis-Spirale für Deutschland bis 2025 Mehrkosten von mindestens 77 Milliarden Euro verursachen. Und das, obwohl die deutsche Wirtschaft momentan mit einer stabilen Lage ganz gut aufgestellt ist. Durch die Einschränkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands - als zweite direkte Folge der eingeführten Grenzkontrollen - könnte dieses komfortable Polster jedoch recht bald abschmelzen.

Eine Einführung der Grenzkontrollen würde auch für andere europäische Volkswirtschaften weite Schatten voraus werfen. Gerade Staaten, die die letzten Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise bewältigt haben, könnten hier besonders hart getroffen werden. Allen voran Staaten mit einer hohen Importquote (Slowakei, Tschechien, Slowenien, Ungarn).

Zudem wären auch Staaten aus dem Nicht-EU-Ausland von den Grenzschließungen betroffen. So hätten auch die USA oder China unter den innereuropäischen Maßnahmen zu leiden.

Einbruch im Tourismus

Die Grenzschließungen hätten zudem Auswirkungen auf unternehmerische Entscheidungen. In den grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten müsste ein völliges Umdenken stattfinden. Die damit verbundenen Preissteigerungen hätten direkte Auswirkungen auf ausländische Direktinvestitionen, Standortentscheidungen und damit auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen.

Auch würde die Arbeitnehmerfreizügigkeit, speziell die der täglichen Berufspendler direkt betroffen. Was dies auf die bereits existierenden Schwierigkeiten mit Bezug auf soziale Sicherungssysteme, direkte Besteuerung oder Sozialleistungen hätte, lässt die Studie offen. Eine Verbesserung der bestehenden Probleme dürfte allerdings nicht zu erwarten sein.

Weiterhin dürfte die Tourismusbranche gerade in Grenzregionen unter einer Grenzschließung zu leiden haben. Der Kurztrip nach Holland würde sich so beispielsweise aufgrund der langen Wartezeiten an den Grenzen schlichtweg für viele Menschen nicht mehr lohnen.

Die Studie zieht diese Schlussfolgerung nicht, verdeutlicht jedoch die Auswirkungen für das Passwesen, die die Einführung von Grenzkontrollen nach sich ziehen würde. Das gemeinsame System der Visa-Anträge würde wegfallen und jedes Land würde die Anträge für sich bearbeiten. Das bestehende Schengen-System sieht zudem einen Austausch sicherheitsrelevanter Daten zwischen den Mitgliedstaaten vor. Durch eine Dezentralisierung des Passwesens würde die EU-weite Verfolgung von organisierter Kriminalität erheblich erschwert.

Europäischer Binnenmarkt bleibt schützenswert

Die Studie zeigt keinen einzigen Vorteil auf, der aus einer Wiedereinführung der Grenzkontrollen erwachsen würde. "Die Volkswirtschaften aller EU-Mitgliedsstaaten würden erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden", sagt Tim Geier, Europaexperte des MITTELSTANDSVERBUNDES. Inwieweit geschlossene Grenzen auch negative Folgen für die Gesellschaft haben, lassen die Autoren jedoch offen.

Den Kritikern offener Grenzen wird durch diese Studie hoffentlich aufgezeigt, was alles an den – mittlerweile für selbstverständlich wahrgenommen – offenen Grenzen im Binnenmarkt hängt. "Ein Europa mit Grenzen hätte direkte negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft", so Geier. Und auch der Sicherheitsgedanke sei an dieser Stelle zu Rate zu ziehen.

DER MITTELSTANDSVERBUND plädiert daher für mehr Ehrlichkeit und Objektivität in der aktuellen Debatte über die Ausweitung von Grenzkontrollen. Europa ist in jeder Ladentheke und soll dort auch weiterhin bleiben.


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