EU-Abgeordneter Sven Giegold im Interview

"Infrastruktur, gut ausgebildete Mitarbeiter und ein funktionierendes Rechtssystem gibt es nicht zum Nulltarif." Wie die EU für mehr Steuergerechtigkeit in Europa sorgen will, erklärt der Abgeordnete des EU-Parlaments und Grünen-Politiker, Sven Giegold, im Interview mit den SynergienNews.

SynergienNews: Herr Giegold, welche Bedeutung haben mittelständische Unternehmen für Europa?

EU-Abgeordneter Sven GiegoldSven Giegold: Mittelständische Unternehmen spielen eine zentrale Rolle für die deutsche und europäische Wirtschaft. Sie sind in der Regel nah an ihren Kunden wie auch an ihren Mitarbeitern. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag für regionale Entwicklung und Stabilität. Sie sind zumeist inhabergeführt und verfolgen oft nachhaltige Ziele. Damit stehen sie im Gegensatz zu großen insbesondere börsennotierten Unternehmen, die oft nach kurzfristiger Gewinnmaximierung streben.

SynergienNews: Wo sehen Sie diese im Wettbewerb mit Großunternehmen benachteiligt?

Sven Giegold Kleinere Betriebe haben nicht das Personal und die finanziellen Ressourcen, um dieselben gesetzlichen Anforderungen wie Großunternehmen zu erfüllen. Deshalb haben wir uns etwa in der EU-Finanzmarktgesetzgebung für eine proportionale Anwendung der Regeln stark gemacht. Auch bei der Finanzierung sind Großunternehmen im Vorteil, sie zahlen meist weniger für ihre Kredite und bekommen sie schneller bewilligt. Und schließlich haben kleinere, rein national tätige Betriebe keine Möglichkeit, die Schlupflöcher in den Steuersystemen mehrerer Länder zu ihrem Vorteil auszunutzen. Das können nur grenzüberschreitend agierende Konzerne.

SN: Was tut die EU, um diese Nachteile auszugleichen?

Giegold: Wir Grüne fordern im Europaparlament deutlich härtere Regeln für Großbanken als für kleine Institute. Das würde die Finanzmärkte stabilisieren, ohne die Finanzierungsquellen für mittelständische Unternehmen auszutrocknen. In der Diskussion über die Kapitalmarktunion fällt oft das Argument, diese würde den kleinen und mittleren Unternehmen helfen, sich breiter als bisher zu finanzieren. Dies ist jedoch ein Trugschluss. Denn sichere Verbriefungen und ähnliche Initiativen werden aufgrund der damit verbundenen Kosten wohl nur für mittelgroße Betriebe in Frage kommen. Schaut man ein paar Jahre zurück, sieht man, dass der deutsche Mittelstand relativ gut durch die Krise gekommen ist. Das spricht dafür, auch weiterhin auf regional verwurzelte Banken zu vertrauen und sich nicht dem kurz getakteten Kapitalmarkt auszuliefern. Wirklich etwas unternehmen kann die EU auf dem Gebiet der Unternehmensteuern. Im Parlament untersucht ein Sonderausschuss jetzt, wie Konzerne mit einigen EU-Regierungen gemeinsame Sache machen und fast keine Steuern zahlen.

SN: Seit den Öffentlichwerden der "Luxemburg-Leaks" stehen Steuervermeidungsstrategien von einigen großen Playern zunehmend in der Kritik. Warum sind solche Tricks überhaupt möglich?

Giegold: Dafür gibt es zwei Ursachen. Zunächst ist da der Steuerwettbewerb unter den Staaten. In einigen EU-Mitgliedstaaten liegt der gewöhnliche Steuersatz auf Unternehmensgewinne nahe oder bei 10 Prozent. Noch schlimmer ist jedoch die mangelnde Transparenz. Einige Staaten gewähren bestimmten Unternehmen spezifische Steuervorteile. Über diese Art staatlicher Beihilfe informieren sie jedoch nicht die anderen Staaten, die leer ausgehen.

SN: Welche Rolle spielen die sogenannten "Tax Rulings"?

Giegold: Tax Rulings sind die bekannteste Form, wie grenzüberschreitend tätige Unternehmen Steuern sparen können. Solche maßgeschneiderten Steuervorbescheide markieren aber nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich gibt es unzählige Alternativen, die denselben Zweck haben - und leider auch erfüllen. Patentboxen zum Beispiel, durch die Gewinne aus Lizenzen und Patenten sehr gering oder gar nicht besteuert werden, selbst wenn die Forschungsleistung anderswo erbracht wurde. Oder Doppelbesteuerungsabkommen mit Drittstaaten, die am Ende zu doppelter Nichtbesteuerung führen. Die Liste kann man unendlich weiterführen.

SN: Der öffentliche Druck auf die EU wird größer. Wie wird das Europäische Parlament handeln?

Giegold: Das Parlament hat bereits einen Sonderausschuss eingesetzt, der die schädlichen Steuervermeidungspraktiken untersucht. Ziel ist es, die Verantwortlichen zu finden und Handlungsempfehlungen auszusprechen, um das Problem in den Griff zu kriegen. Gesetzesvorschläge kann das Parlament sich von der Kommission sehr präzise wünschen, nur formal nicht selbst in den Prozess geben. In den Verhandlungen zur Neufassung der Aktionärsrechte-Richtlinie hat das Parlament sich als gleichberechtigter Gesetzgeber klar für längerübergreifende Finanzberichterstattung für Großunternehmen ausgesprochen. Mit diesem Ja zum sogenannten Country-by-Country-Reporting treibt das Parlament die Kommission vor sich her. Außerdem unterstützt das Parlament uneingeschränkt den längst überfälligen Vorschlag der Kommission, Informationen zu Rulings automatisch zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommision auszutauschen. Darüber hinaus erstellt der Wirtschafts- und Währungsausschuss derzeit einen Bericht, der weitere dringend notwendige Maßnahmen im Bereich der Unternehmensbesteuerung anmahnen wird.

SN: Reicht es, die Transparenz der Steuergesetze der EU-Staaten zu erhöhen, oder brauchen wir eine Harmonisierung der Steuergesetze in Europa?

Giegold: Transparenz ist ein erster wichtiger Schritt. Zum einen durch automatischen Austausch der Informationen zu Rulings zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission, am besten in einem öffentlichen Register. Zum anderen, indem jedes große international tätige Unternehmen im Jahresabschluss pro Land darlegt, wie viele Mitarbeiter es beschäftigt, wie hoch Umsatz und Gewinn sind und wieviel Steuern bezahlt wurden. So lässt sich leicht nachvollziehen, ob die bezahlten Steuern in einem angemessenen Verhältnis zu den genutzten Gemeinwohlgütern stehen. Denn Infrastruktur, gut ausgebildete Mitarbeiter und ein funktionierendes Rechtssystem gibt es nicht zum Nulltarif. Eine Harmonisierung der Steuergesetze ist in einem geeinten Europa sicherlich wünschenswert. Das würde enorme Erleichterungen für Unternehmen und Bürger bringen. Um gegen Steuervermeidung und Steuerdumping vorzugehen, ist eine Harmonisierung aber nicht zwingend nötig. Dafür genügte ein Mindestsatz für Unternehmensgewinne in der EU. Und die Vereinheitlichung der Steuerbemessungsgrundlage in den Staaten. Vorschläge für eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage liegen seit fast 20 Jahren auf dem Tisch. Jetzt müssen sie umgesetzt werden.

SN: Die EU-Kommission hat gegen Google ein Verfahren eröffnet. Wird das EU-Parlament vom Team-Juncker beim Thema Steuerflucht überholt?

Giegold: Keineswegs. Dass die EU-Kommission Untersuchungen wegen illegaler steuerlicher Beihilfe gegen einige Konzerne und Mitgliedstaaten einleitet, war längst überfällig. Ansonsten hat die Kommission bis jetzt wenig geliefert. Den automatischen Austausch von Rulings in die Richtlinie zur Verwaltungszusammenarbeit aufzunehmen ist tatsächlich kein großer Wurf. Streng genommen gilt die Pflicht zum spontanen Austausch von Rulings seit 1977. Vor dem Sommer will die Kommission weitere Maßnahmen vorschlagen. Wir können nur hoffen, dass sie dann ambitionierter ist. Wir brauchen dringend länderübergreifende Finanzberichterstattung, eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage und einen Mindeststeuersatz.

SN: Welche Rolle spielt der TAXE-Ausschuss?

Giegold: Der Sonderausschuss wurde beauftragt, die Verfehlungen von Mitgliedstaaten und Kommission seit 1991 im Bereich der direkten Besteuerung von Unternehmen aufzudecken. Mitgliedstaaten haben erstens bestimmten Unternehmen Steuervorteile gewährt und damit wohl europäisches Wettbewerbsrecht gebrochen. Zweitens haben sie offensichtlich gegen die Pflicht zum spontanen Austausch von Informationen zu Steuerrulings verstoßen. Die Kommission wiederum muss erklären, weshalb sie die Verstöße der Mitgliedstaaten geduldet und nicht eher eingegriffen hat. Nach den Luxleaks-Enthüllungen müssen wir das Moment nutzen, die Verantwortlichen für die jahrelange Klüngelei zwischen Regierungen und Konzernen zu ermitteln. Doch nicht nur die Unternehmen und Länder, die selbst Recht gebrochen haben, stehen im Fokus der Untersuchungen. Zu klären ist auch, weshalb sich Länder wie Deutschland nicht gegen den massiven Verlust von Steuereinnahmen gewehrt haben.

SN: Ist das Mandat des TAXE-Ausschusses für die Bekämpfung aggressiver Steuervermeidungsstrategien überhaupt ausreichend?

Giegold: Richtig ist, dass TAXE ein Sonderausschuss mit begrenzten Rechten ist. Wir Grüne hatten einen echten Untersuchungsausschuss gefordert. Dieser hätte auch das Recht gehabt, Dokumente von den Mitgliedstaaten einzufordern. Konservative und Sozialdemokraten jedoch haben einen Untersuchungsausschuss verhindert. Der Sonderausschuss kann die Mitgliedstaaten nur um Dokumente bitten und es bleibt abzuwarten, ob die Regierungen liefern werden. Das ändert aber nichts daran, dass das Mandat des Sonderausschusses sehr weit gefasst ist. Wir untersuchen nicht nur Rulings, sondern alle Maßnahmen ähnlicher Art und Wirkung. Dabei gehen wir zurück bis ins Jahr 1991 und schauen uns auch Länder außerhalb der EU an. Somit werden wir das Problem des Steuerdumpings umfassend untersuchen. Der Abschlussbericht des Parlaments wird ganz konkrete Handlungsempfehlungen enthalten, wie wir uns ein gerechteres und transparenteres Steuersystem vorstellen. Dann ist es an der Kommission und den Mitgliedstaaten, diese Vorschläge aufzugreifen und möglichst schnell umzusetzen.

SN: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Giegold!

Sven Giegold ist ein deutscher Politiker. Im September 2008 wurde er Mitglied der Partei Bündnis 90 / Die Grünen. Seit Juni 2009 ist er Abgeordneter im Europäischen Parlament. Dort ist er Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung sowie in der Delegation für die Beziehungen zu den Ländern der Andengemeinschaft und in der Delegation in der Parlamentarischen Versammlung Europa-Lateinamerika. Stellvertretendes Mitglied ist Giegold im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten und in der Delegation für die Beziehungen zu den Ländern des Mercosur.

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