BGH: Mangelvermutung zugunsten des Verbrauchers

Das oberste Zivilgericht hat seine Rechtsprechung zur Reichweite der Mangelvermutung des § 476 BGB geändert und europarechtskonform ausgelegt. DER MITTELSTANDSVERUND informiert zu den Folgen für Unternehmen.

Berlin, 05.01.2017 - Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat mit Urteil vom 12. Oktober 2016 (Az. VIII ZR 103/15) seine bisherige Rechtsprechung zum Umfang der Vermutung des § 476 BGB aufgegeben. Käufer müssen künftig nur noch den vertragswidrigen Zustand der Sache behaupten und beweisen, der sich binnen sechs Monaten nach Übergabe herausgestellt hat. Damit wird vermutet, dass das Mangelsymptom seine Ursache im Grundmangel habe, der bereits bei Gefahrübergang bestanden habe.

Worum ging es?

Der Kläger kaufte von der Beklagten, einer Kraftfahrzeughändlerin, einen gebrauchten PKW. Nach knapp fünf Monaten schaltete die im Fahrzeug eingebaute Automatikschaltung in der Einstellung "D" nicht mehr selbständig in den Leerlauf. Stattdessen starb der Motor ab. Nach erfolgloser Fristsetzung zur Mangelbeseitigung trat der Kläger vom Kaufvertrag zurück und verlangte die Rückzahlung des Kaufpreises und den Ersatz geltend gemachter Schäden.

Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Oberlandesgericht (OLG) hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe nicht den ihm obliegenden Beweis erbracht, dass das Fahrzeug bereits bei seiner Übergabe einen Sachmangel aufgewiesen habe. Zwar seien die aufgetretenen Symptome auf eine zwischenzeitlich eingetretene Schädigung des Freilaufs des hydrodynamischen Drehmomentwandlers zurückzuführen. Auch sei es grundsätzlich möglich, dass der Freilauf schon bei der Übergabe des Fahrzeugs mechanische Veränderungen aufgewiesen habe, die im weiteren Verlauf zu dem eingetretenen Schaden geführt haben könnten. Nachgewiesen sei dies jedoch nicht.

Vielmehr komme als Ursache auch ein Bedienungsfehler des Klägers nach Übergabe in Betracht. Bei einer solchen Fallgestaltung könne sich der Kläger nicht auf die Beweislastumkehrregelung des § 476 BGB berufen. Denn nach der Rechtsprechung des BGH begründe diese Vorschrift lediglich eine in zeitlicher Hinsicht wirkende Vermutung dahin, dass ein innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang aufgetretener Sachmangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen habe. Sie gelte dagegen nicht für die Frage, ob überhaupt ein Mangel vorliege.

Die Entscheidung des BGH

Der BGH hat nun seine bislang zu § 476 BGB entwickelten Grundsätze zugunsten des Käufers angepasst, um sie mit den Erwägungen in dem zwischenzeitlich ergangenen Urteils des EuGH vom 4. Juni 2015 (C-497/13, NJW 2015, 2237 - Faber/Autobedrijf Hazet Ochten BV) in Einklang zu bringen.

Folge dieser geänderten Auslegung des § 476 BGB ist eine im größeren Maß als bisher angenommene Verschiebung der Beweislast vom Käufer auf den Verkäufer beim Verbrauchsgüterkauf. Der Verkäufer hat den Nachweis zu erbringen, dass die aufgrund eines binnen sechs Monaten nach Gefahrübergang eingetretenen mangelhaften Zustands eingreifende gesetzliche Vermutung, bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs habe - zumindest ein in der Entstehung begriffener - Sachmangel vorgelegen, nicht zutrifft.

Er hat also darzulegen und nachzuweisen, dass ein Sachmangel zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs noch nicht vorhanden war, weil sie ihren Ursprung in einem Handeln oder Unterlassen nach diesem Zeitpunkt hat und ihm damit nicht zuzurechnen ist. Gelingt ihm diese Beweisführung - also der volle Beweis des Gegenteils der vermuteten Tatsachen - nicht hinreichend, greift zu Gunsten des Käufers die Vermutung des § 476 BGB auch dann ein, wenn die Ursache für den mangelhaften Zustand oder der Zeitpunkt ihres Auftretens offengeblieben ist, also letztlich ungeklärt geblieben ist, ob überhaupt ein vom Verkäufer zu verantwortender Sachmangel vorlag.

Daneben verbleibt dem Verkäufer die Möglichkeit, sich darauf zu berufen und nachzuweisen, dass das Eingreifen der Beweislastumkehr des § 476 BGB ausnahmsweise bereits deswegen ausgeschlossen sei, weil die Vermutung, dass bereits bei Gefahrübergang im Ansatz ein Mangel vorlag, mit der Art der Sache oder eines derartigen Mangels unvereinbar sei. Auch kann der Käufer im Einzelfall gehalten sein, Vortrag zu seinem Umgang mit der Sache nach Gefahrübergang zu halten.

Der BGH hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Welche Folgen sind für den Handel zu erwarten?

Um die Entscheidung des BGH einordnen zu können, muss man sich den Sinn und Zweck des § 476 BGB vergegenwärtigen. Ein gekaufter Gegenstand erweist sich schon nach wenigen Monaten als defekt oder ist überhaupt nicht mehr nutzbar. Die dem Käufer zustehenden Gewährleistungsrechte setzen voraus, dass die Sache schon bei Gefahrübergang, also bei Besitzübertragung, mangelhaft war. Im Streit muss regelmäßig der Käufer den Mangel darlegen und beweisen. Hierfür fehlt ihm aber oft die Sachkunde. Bei Verbrauchsgüterkäufen hilft dem Käufer dann die Vermutung in § 476 BGB, der zufolge ein Mangel, der sich innerhalb der ersten sechs Monate nach Übergabe zeigt, bereits bei Gefahrübergang vorlag.

Allerdings hilft die Vermutung des § 476 BGB nicht immer. Sie ist auch widerleglich, so dass der Verkäufer den Beweis erbringen kann, dass der Defekt auf einen Bedienungsfehler des Käufers zurückzuführen ist. Die wichtigste Einschränkung besteht aber darin, dass der Umfang der Vermutung nach dem Wortlaut der Vorschrift gerade nicht das Bestehen eines Sachmangels erfasst, sondern nur den Zeitpunkt betrifft, zu dem dieser bereits vorgelegen hat. Das Bestehen eines Mangels muss der Käufer also immer noch selbst darlegen und beweisen.

Problematisch wird dies in den Fällen des sog. Grundmangels. Unterscheidet man nämlich zwischen diesem, etwa einer Materialermüdung, und dem bloßen Mangelsymptom, etwa dem Brechen eines Bauteils, so erstreckt sich die Vermutung des § 476 BGB gerade nicht auf den Grundmangel. Diesen Standpunkt hatte der BGH bisher aber eingenommen – mit der Folge, dass der Käufer von der verbraucherschützend konzipierten Vermutung keinen Nutzen hat.

Ausblick

Fraglich ist, ob die neue Interpretation des § 476 BGB zu einer erweiterten, quasi garantieähnlichen Haftung des Verkäufers in den ersten sechs Monaten nach Übergabe führt. Der EuGH schätzt die Folgen angesichts der übersichtlichen Zeitspanne als nicht zu gravierend ein. Außerdem, so der EuGH, wird ein wirtschaftlich denkender Verkäufer ein daraus resultierendes zusätzliches Gewährleistungs-Kostenrisiko in den Preis einkalkulieren. Zudem bleibt dem Verkäufer, der seiner Sache sicher ist, immer die Widerlegung der Vermutung.

DER MITTELSTANDSVERBUND geht nach derzeitigem Kenntnisstand davon aus, dass sich die geänderte BGH-Rechtsprechung in der Praxis nur in seltenen Fällen zum Nachteil des Verkäufers auswirken wird. Dies gerade deshalb, weil es bereits heute schon sehr häufig so ist, dass bei einem Mangel innerhalb der ersten sechs Monate keine rechtsdogmatische Auseinandersetzung über die rechtlichen Fragen stattfindet, sondern der Verkäufer, nicht zuletzt aus Gründen der Kulanz, den Wünschen des Kunden nach Reparatur oder Ersatz etc. nachkommt. An dieser Situation wird sich nach jetziger Einschätzung auch durch die BGH-Entscheidung nichts ändern.

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