Neuauflage der GVO-Vertikal – Hilfe in kleinen Schritten

In der Weiterentwicklung des Europäischen Wettbewerbsrechts ist ein wichtiges Dossier zum Abschluss gekommen: Die Neuauflage der Gruppenfreistellungsverordnung Vertikal und deren Leitlinien. Auch wenn einige Hilfen für den kooperierenden Mittelstand bereitgestellt wurden, bleibt der „große Wurf“ weiterhin aus.

Brüssel, 10. Mai 2022 – Nach fast drei Jahren politischer Verhandlungen wurden am heutigen Tag die neue Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen („Vertikal-GVO“) und der überarbeiteten Leitlinien für vertikale Beschränkungen („Vertikal-Leitlinien“) durch die Europäische Kommission vorgestellt. Als Teil des europäischen Wettbewerbsrechts stellt die Vertikal-GVO nebst Leitlinien dabei das Grundgerüst kooperativer Zusammenarbeit für Verbundgruppen auf. Als Ergänzung zum allgemeinen Wettbewerbsrecht enthält die Vertikal-GVO Regeln über die Zulässigkeit von Vereinbarungen zwischen unterschiedlichen Stufen der Wertschöpfungskette: Maßnahmen der Industrie gegenüber Groß- und Einzelhändlern sind daher ebenso von dem Anwendungsbereich der Vertikal-GVO erfasst wie Vereinbarungen zwischen Verbundgruppen-Zentralen und deren Anschlusshäusern.

Gruppenfreistellungsverordnung

Die aktuelle Novelle war notwendig, da die noch bestehende Vertikal-GVO mit einem Verfallsdatum versehen ist: Am 31. Mai 2022 treten die bisherigen Regelungen außer Kraft. Pünktlich zum 01. Juni 2022 hat die Europäische Kommission daher einen neuen Rechtsrahmen für vertikale Vereinbarungen gefunden.  

Verbundgruppen und Wettbewerbsrecht – ein Paradigmenwechsel?

DER MITTELSTANDSVERBUND hatte sich während der gesamten Phase der politischen Verhandlungen immer wieder vehement für eine Reihe von Änderungen des bestehenden Rechtsrahmens ausgesprochen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund des zunehmenden Drucks, dem kooperierende Händler im E-Commerce ausgesetzt sind; neben großen datengetriebenen Plattformen stehen selbstständige Einzelhändler im Wettbewerb zu filialisierten bzw. integrierten Systemen. Letztere können aufgrund ihrer gesellschaftsrechtlichen Struktur gerade mit Blick auf Preiswerbung einheitlicher auftreten, als es dies Verbundgruppen und deren Anschlusshäusern möglich ist. Denn: Nur in einer Konzernstruktur ist es wettbewerbsrechtlich zulässig, mit einheitlichen Preisen zu werben. Einheitliche Preise in einer Verbundgruppen-Struktur waren hingegen nach der bestehenden Vertikal-GVO grundsätzlich verboten.

Auch die Neuauflage der Vertikal-GVO verbietet im Grundsatz die Festsetzung einheitlicher Preise als Ergebnis einer Absprache zwischen unterschiedlichen Stufen der Wertschöpfungskette (und damit auch zwischen Verbundgruppen und deren Anschlusshäusern). Einheitliche Preise bleiben daher zunächst lediglich bei Produktneueinführungen sowie kurzfristigen Sonderangebotskampagnen zulässig.

„Unsere Bemühungen, in diesem Zusammenhang eine weitergehende Öffnung für Verbundgruppen zu erreichen, scheinen jedoch nur vordergründig keine Entsprechung in den neuen Regeln gefunden zu haben." erklärt Tim Geier, Geschäftsführer Büro Brüssel, DER MITTELSTANDSVERBUND. Hintergrund dieser Vermutung ist die Arbeit an einem weiteren Rahmenwerk des europäischen Wettbewerbsrechts: Den Leitlinien über die horizontale Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbern. Ein Vorentwurf der aktuell entwickelten Regeln sieht nämlich vor, dass insbesondere im Online-Bereich der Auftritt mit einheitlichen Preisen zwischen Gruppen selbstständiger Einzelhändler sehr wohl effizienzfördernd und damit zulässig sein kann. „Was wir hier sehen, ist ein Paradigmenwechsel in der wettbewerbsrechtlichen Betrachtung von Kooperationen“, kommentiert Dr. Marc Zgaga, Geschäftsführer beim MITTELSTANDSVERBUND. „Wurden Verbundgruppen bislang sowohl nach den vertikalen und horizontalen Wettbewerbsregeln betrachtet, scheint zumindest der gemeinsame Auftritt von Verbundgruppen online nunmehr ausschließlich nach horizontalen Zulässigkeitserwägungen zu erfolgen.“ Letztendlich könnte damit tatsächlich das vom MITTELSTANDSVERBUND seit langem geforderte Petitum der Möglichkeit eines einheitlichen Auftritts von Verbundgruppen realisiert werden. DER MITTELSTANDSVERUND setzt sich daher für eine Beibehaltung dieses Ansatzes der Europäischen Kommission ein. Aktuell liegt dabei der Fokus auf der Gewährleistung von Rechtsklarheit.

Stärkung des Eigenmarken-Vertriebs

Die eben genannten Grundsätze hinsichtlich der einheitlichen Preissetzung wurden hingegen im Verhältnis Produzent – Abnehmer ein wenig aufgeweicht: So sollen Hersteller bzw. Produzenten zukünftig Mindestpreise für ihre Produkte festlegen können. Dies kommt in der Konsequenz auch Verbundgruppen mit eigenen Exklusivlinien zugute, die von einer solchen Mindest-Preissetzungs-Hoheit ebenfalls profitieren können. Ein wichtiger Faktor, bedenkt man, dass der Aufbau von Eigenmarken erhebliche finanzielle Ressourcen beansprucht, deren Amortisierung zukünftig planbarer werden könnte.

Kooperations-Streckengeschäft als neuer Weg

Rechtsklarheit hat die Europäische Kommission hingegen im Bereich des Streckengeschäfts geschaffen. Ein Streckengeschäft stellt dabei ein Vertriebsmodell dar, bei dem die Verbundgruppen-Zentrale online Produkte zu einheitlichen Preisen anbietet. In dem dahinter liegenden Fulfillment-Prozess werden die Händler der Verbundgruppen eingebunden und stehen daher im direkten Kontakt mit den Kunden. Die neuen Vertikal-Regeln stellen eindeutig fest, dass ein solches Modell wettbewerbsrechtlich zulässig ist. Eine wichtige Option für die Weiterentwicklung der Vertriebsmodelle im Verbund wurde daher auf eine rechtlich belastbare Grundlage gestellt.

Online neu gedacht

Die Vertikal-GVO trägt auch dem Umstand Rechnung, dass der Vertriebsweg E-Commerce nunmehr seinen Kinderschuhen entwachsen ist und keines gesonderten Schutzes mehr bedarf. Deutlich wird das zunächst in den neuen Regeln über die Zulässigkeit einer Preisdifferenzierung auf Großhandels-Ebene, je nachdem, ob ein Produkt online oder stationär verkauft werden soll. Im Ergebnis dürfen Lieferanten günstigere Konditionen für Produkte, die ausschließlich am POS verkauft werden, gegenüber den Händlern einräumen. DER MITTELSTANDSVERBUND hatte sich seit Jahren für eine solche Möglichkeit ausgesprochen, da somit die umfassenden Investitionen des stationären Handels in Beratungsleistungen, After-Sales-Dienstleistungen, die Ausstattung des Landesgeschäfts selbst sowie Mitarbeiteraus- und Weiterbildung nunmehr auch monetär gewürdigt werden kann.

Weiterhin schaffen die neuen Regeln Klarheit hinsichtlich der Möglichkeiten der Industrie, Einfluss auf die Online-Vertriebswege von Händlern zu nehmen. Dies spiegelt insbesondere die diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH der letzten Jahre wider. Auch wenn danach Lieferanten den Händlern Qualitätskriterien hinsichtlich der Erscheinung eines Online-Shops sowie der vorzuhaltenden Leistungen in diesem Zusammenhang auferlegen können, stellt die Vertikal-GVO klar, dass damit der Vertriebskanal Online nicht insgesamt beschränkt werden darf.

Fazit

Erwartungsgemäß bleibt die Materie komplex und eine abschließende Analyse wird erst mit Verabschiedung aller in diesem Zusammenhang relevanten Rechtsakte möglich sein. Insgesamt scheint die Kommission jedoch verstanden zu haben, wo wichtige Weichenstellungen gerade im Online-Handel liegen. DER MITTELSTANDSVERBUND setzt sich daher weiterhin für den Erhalt bzw. die Schaffung eines maximalen Handlungsrahmens für Verbundgruppen ein, um neue innovative Vertriebswege im Verbund zu ermöglichen.

Seite drucken

Ansprechpartner

Dr. Marc ZgagaDER MITTELSTANDSVERBUND
Dr. Marc Zgaga Geschäftsführer Mehr Infos
DER MITTELSTANDSVERBUND
E-Mail schreiben
Tim GeierDER MITTELSTANDSVERBUND
Tim Geier Geschäftsführer Büro Brüssel Mehr Infos
DER MITTELSTANDSVERBUND
E-Mail schreiben
Zurück zur Übersicht