Veltmann: Gelbe Karte für Pessimisten und Zauderer

Zum Ende des Jahres 2015 zieht Dr. Ludwig Veltmann Bilanz. Im Interview erklärt der Hauptgeschäftsführer des MITTELSTANDSVERBUNDES, warum er Zweckoptimist ist und was die größten Herausforderungen für den kooperierenden Mittelstand waren.

Berlin, 21.12.2015 — Dr. Ludwig Veltmann ist schon von Beruf wegen optimistisch für 2016. "Die Voraussetzungen sind gut. Aber wir müssen die Herausforderungen annehmen", erklärt der Hauptgeschäftsführer des MITTELSTANDSVERBUNDES im Interview. Die größte Herausforderung bliebe die Digitalisierung. Risiken sieht er in den Migrationsbewegungen innerhalb und außerhalb unseres Landes. Warum Veltmann dennoch überzeugt ist, dass Deutschland die Flüchtlingskrise lösen kann, lesen Sie im Interview mit den SynergienNews.

SynergienNews: Herr Dr. Veltmann, wie war das Jahr 2015 für den kooperierenden Mittelstand?

MITTELSTANDSVERBUND-Hauptgeschäftsführer Dr. Ludwig VeltmannDr. Ludwig Veltmann: Insgesamt war das Jahr immer wieder herausfordernd. Beginnen wir aber mit der angenehmen Seite: Der wirtschaftlichen Entwicklung.

Diese war 2015 im Mittelstand allgemein gut. Sicherlich ist dies einigen äußerlichen Umständen geschuldet. Zum einen ist die Kostenentwicklung durch den günstigen Öl- und Gaspreis in unserem Land gedämpft. Das schafft Raum für ein gutes Konsumklima, von dem die Binnenkonjunktur profitiert. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den Branchen. Im MITTELSTANDSVERBUND vertreten wir insgesamt rund 45 Branchen aus Einzel- und Großhandel, Handwerk und Dienstleistungsgewerbe. Während der konsumorientierte Einzelhandel wohl am meisten profitierte, war die Entwicklung im Großhandel streckenweise unterschiedlich. So gab es im Baustoffgroßhandel durch die gedämpften Preise bei Stahl und Metall sicherlich hier und da Umsatzrückgänge. Auf der anderen Seite sorgte die Baukonjunktur für positive Impulse. Insgesamt können wir mit der konjunkturellen Entwicklung zufrieden sein.

An anderer Stelle hab es allerdings Herausforderungen, die uns keineswegs zufrieden stellen können. So beobachten wir seit einiger Zeit starke Migrationsbewegungen — sowohl innerhalb, als auch außerhalb unseres Landes. Aus den ländlichen Regionen strömen die Menschen in Ballungszentren wie Berlin, Köln oder Hamburg. Während allein die Großstädte von dieser Entwicklung profitieren, bekommen die kleineren Städte und ländlichen Regionen zunehmend Entwicklungsprobleme. Dazu kommt, dass große Teile des Konsums zunehmend auf große Internetprovider verlagert werden. Auch die Hersteller überspringen immer häufiger die Wertschöpfungsstufen des Handels. Ich denke, wir hätten diese Entwicklung noch stärker zu spüren bekommen, wenn wir in diesem Jahr nicht so eine gute Konjunktur gehabt hätten.

Darüber hinaus standen wir vor einer ganz besonderen gesellschaftlichen Herausforderung: Nach Schätzungen sind in diesem Jahr eine Million Neuankömmlinge nach Deutschland geströmt, um sich hier eine Perspektive aufzubauen. Sie sind aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt geflohen. Dies ist zunächst einmal eine gewaltige Herausforderung für Politik und Verwaltung auf allen Ebenen und bundesweit. Mittel- und langfristig wird diese Situation aber auch für unsere Mitgliedskooperationen zu einer gewaltigen Herausforderung werden. Insbesondere die lokalen Unternehmen müssen den Menschen vor Ort Perspektiven bieten. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch eine große Chance für die Kooperationen, ihren Fachkräftemangel ein wenig abzumildern. Schließlich sind die Flüchtlinge im Durchschnitt jünger als 25 Jahre alt. Bei der demografischen Entwicklung in unserem Land könnten sich hier wichtige Perspektiven eröffnen.

Allerdings ist zunächst die Politik gefragt. Sie muss beispielsweise systematisch die Qualifikationen der Menschen erfassen und Rahmenbedingungen schaffen, damit die Flüchtlinge schnell in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt eingeführt werden können. DER MITTELSTANDSVERBUND unterstützt dies nach Kräften. So hat unser Präsidium im September dieses Jahres eine Resolution verabschiedet mit einem klaren Bekenntnis und dem Aufruf an alle von uns vertretenen Unternehmen, sich für die Integration einzusetzen. Auch der Bundesregierung haben wir unsere Unterstützung zugesagt. Unsere Mitgliedsunternehmen wollen zunächst 5000 Praktikumsplätze für Flüchtlinge schaffen. Auch mit dem Kreativpreis des MITTELSTANDSVERBUNDES wird der Bedeutung des Themas Integration im kommenden Jahr Rechnung getragen.

SN: Kritische Stimmen behaupten, dass die Flüchtlinge überwiegend keine ausreichende Qualifikation für unseren Arbeitsmarkt haben. Wie sehen Sie das?

Veltmann: Mich stört an der öffentlichen Debatte, dass der Eindruck erweckt wird, wir hätten eine Alternative. Als stünden wir vor der Wahl, ob wir die Menschen in unser Land lassen oder nicht. Die Menschen sind schließlich schon da. Die sich uns damit stellende Aufgabe können wir annehmen oder vor ihr resignieren. Letzteres ist für uns überhaupt keine Option. Vor Ort erleben unsere Mitglieder die Flüchtlinge hoch als motiviert. Wenn ihre beruflichen Qualifikationen in vielen Fällen noch nicht ausreichen sollten, ist in aller Regel eine hohe Lernbereitschaft vorhanden. Das sollte uns ermutigen, die Chancen zu erkennen.

SN: Ist die Flüchtlingskrise aber nicht vielmehr ein europäisches Thema, dass von der EU gelöst werden muss?

VMITTELSTANDSVERBUND-Hauptgeschäftsführer Dr. Ludwig Veltmanneltmann: Ja, natürlich. Wenn man sieht, wie die Welt im Umbruch ist — besonders im nordafrikanischen und arabischen Raum — muss eine gemeinsame europäische Lösung gefunden werden. Übrigens hätten wir dann gar keine "Krise" mehr. Man kann die Situation vielleicht tatsächlich als „Zerreißprobe“ für die Europäische Union bezeichnen. Sie könnte aber auch dazu führen, dass die europäischen Staaten wieder näher zusammenrücken. Es wäre beispielsweise denkbar und gut zu begründen, Mitgliedstaaten, die sich weigern ihren Teil einer solchen allgemein gesellschaftlichen Aufgabe zu übernehmen, von Fördergeldern der EU in anderen Bereichen auszuschließen oder diese zumindest deutlich zu kürzen.

Auf jeden Fall muss Deutschland eine gewisse Leit- und Vorbildfunktion übernehmen und anderen Ländern zeigen, wie man eine solche Situation lösen kann. Neben der Organisation der Qualifikation muss auch geeigneter und bezahlbarer Wohnraum gefunden werden. Dies gilt im Übrigen nichtexplizit für Flüchtlinge, sondern auch für Deutsche aus unteren Einkommenskategorien, die wir selbstverständlich nicht benachteiligen dürfen. Wenn wir all diese Herausforderungen geschickt und mit Augenmaß angehen, werden wir es schaffen und damit Vorbild sein für unsere europäischen Nachbarn. Das hohe Steueraufkommen und die gute Beschäftigungslage bescheren uns aktuell eine gute konjunkturelle Ausgangssituation für die notwendigen Zusatzinvestitionen, die zur Bewältigung der Integrationsaufgaben zu leisten sind. Ich kann mich nur wiederholen: Lassen Sie es uns anpacken!

SN: Wenn wir jetzt noch einmal zusammenfassen, waren die größten Herausforderungen 2015?

Veltmann: Die Digitalisierung, die Flüchtlingskrise und die Urbanisierung — wenn man das so bezeichnen will. Verbunden mit der Verödung von ländlichen Regionen und den damit verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen.

SN: Die Politik bezeichnet sich ja gerne als "Partner des Mittelstandes". Ist sie 2015 für mittelständische Unternehmen ein Verbündeter gewesen?

Veltmann: Ich sehe im Moment einen leichten positiven Kurswechsel. Bis zur Mitte des zu Ende gehenden Jahres hätte ich der Politik bestenfalls die Schulnote vier gegeben. Denn bis dahin hat die Bundesregierung aus dem Koalitionsvertrag immer nur die sozialpolitischen Geschenke umgesetzt — Mindestlohn, Rente mit 63 und Frauenquote sind nur einige Stichworte. All diese Themen haben ein Mehr an Bürokratie, höhere Kosten und geringere Margen für den Mittelstand gebracht.

Erst im letzten Halbjahr von 2015 haben wir erste Signale gesehen, dass sich die Politik für die Wirtschaft einsetzt. Ein Beispiel ist das Insolvenzanfechtungsrecht, was eines der großen Themen dieses Jahres gewesen ist. Hier haben wir auf eine dringend notwendige Reform hingewirkt und diese auf allen administrativen und politischen Ebenen eingefordert. Es waren dicke Bretter zu bohren, bishin auf den direkten Dialog unseres Präsidenten Wilfried Hollmann mit Justizminister Heiko Maas . Nachdem nun ein Regierungsentwurf uns die Stellungnahmen des Bundesrates dazu vorliegen, hoffen wir nun, dass der Bundestag zu Jahresbeginn 2016 das geänderte Gesetz rasch auf den Weg bringt. Dies wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Rechtssicherheit und ein dringend notwendiger Impuls für unsere mittelständischen Unternehmen.

SN: Und wie sieht das in Brüssel aus?

Veltmann: Natürlich mischen sich in Brüssel noch mehr einzelne Interessen als in einem einzelnen Mitgliedstaat. Hinzu kommt, dass kein europäisches Land so mittelständisch geprägt ist wie Deutschland. Deswegen sehen wir uns sowohl in der EU-Kommission als auch im Parlament häufig der Situation gegenüber, dass den Beamten und Abgeordneten unsere mittelständischen Strukturen nicht bekannt sind. Das gilt umso mehr für die überbetriebliche Zusammenarbeit von kleinen und mittleren Unternehmen in Genossenschaften und Verbundgruppen anderer Rechtsform. Es gibt also ein Defizit an Know-How, wie man die kleinen und mittleren Unternehmen fördert. Hier setzen wir mit unserer Verbandsarbeit in Brüssel an. In zahlreichen Gesprächen mit Kommissionsvertretern und Europaparlamentariern versuchen wir die Strukturen zu erklären und die Probleme, die sich daraus ergeben, zu verdeutlichen.

Die Digitalisierung ist keineswegs ein vorübergehender Zustand. Dr. Ludwig Veltmann

Ein großes Thema ist die vertikale Preisbindung. Sie ist notwendig, damit Verbundgruppen gerade im Online-Handel gemeinsam im Markt auftreten können und nicht etwa alle gegeneinander in den Wettbewerb treten. Das versuchen wir in Brüssel über mehrere Kanäle deutlich zu machen. Dazu haben wir auf der einen Seite unser eigenes Büro. Wir sind weiterhin mit unserem europäischen Dachverband, Independent Retail Europe, vernetzt. Ich selbst bin dort im Vorstand und versuche auch hier für das Thema zu sensibilisieren. Auch in der Hochrangigen Gruppe für Wettbewerbsfähigkeit im Einzelhandel der EU-Kommission sind wir vertreten und haben so dafür gesorgt, dass das Thema in den Abschlussbericht des Gremiums Eingang gefunden hat.

SN: Bald ist Weihnachten. Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, welche wären das?

Veltmann: Zunächst würde ich mir wünschen, dass wir ein wenig mehr Spielraum hätten bei unserem Budget. Um bei der Interessenvertretung des Mittelstandes wirklich etwas bewegen zu können und auf Augenhöhe mit den großen Spitzenverbänden der Deutschen Wirtschaft zu sein, sind gewisse wirtschaftliche Rahmenbedingungen notwendig. Mein Wunsch wäre, dass wir hier mehr Schlagkraft bekommen.

Des Weiteren hätte ich den Wunsch, dass unsere Mitglieder bei den Veranstaltungen des MITTELSTANDSVERBUNDES eine gute Präsenz zeigen. Wir können natürlich vieles formulieren und vortragen, was unsere Mitglieder bewegt. Richtig überzeugend wird es für die Politik aber erst, wenn die Mitglieder bei den Themen auch sichtbar dahinter stehen. Als Unternehmen ist es heute nicht mehr ausreichend, wenn man nur seine Fachkenntnis hat, sondern man muss auch in den politischen Dialog eintreten. Deswegen würde ich mir wünschen, dass möglichst alle Verbundgruppen zu unserem Mittelstandsgipfel PEAK am 10./11. Mai 2016 nach Berlin kommen.

Und drittens würde ich mir wünschen, dass wir beim Bürokratieabbau sowohl in Berlin als auch in Brüssel tatsächlich mal einen Durchbruch schaffen. Statt dem Abbau schaffen neue Regelungen immer neue belastende Bürokratie für den Mittelstand. Ein Beispiel ist der gesetzliche Mindestlohn, der mit seinen Aufzeichnungs- und Kontrollpflichten zu einem wahren Bürokratiemonster mutiert ist.

SN: Und wie wird 2016 für den kooperierenden Mittelstand werden?

VeltMITTELSTANDSVERBUND-Hauptgeschäftsführer Dr. Ludwig Veltmannmann: Auch im nächsten Jahr werden sich viele Unternehmen im Zuge der Digitalisierung darauf konzentrieren müssen, welche Leistungen sie ihren Mitgliedern anbieten können. Dabei werden diejenigen im Wettbewerb die Nase vorne haben, die ihren Mitgliedern die Chancen und Potenziale nutzbar machen. Denn die Digitalisierung ist keineswegs ein vorübergehender Zustand. Sie wird ganz konsequent weitergehen. Die Verbundgruppen müssen sich also weiter fit machen. Dafür haben wir mit dem StrategieDialog Multichannel eine wichtige Plattform geschaffen.

Zum anderen müssen unsere Verbundgruppen ihre Mitglieder dabei unterstützen, ihren Kunden in den stationären Ladengeschäften echte Erlebnisse zu bieten. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Wir müssen den lokalen Handel stärker emotionalisieren.

SN: Wenn die Kooperationen diese Herausforderungen gemeinsam mit dem MITTELSTANDSVERBUND erfolgreich meistern, sind Sie also positiv und optimistisch für das kommende Jahr?

Veltmann: Die Voraussetzungen für 2016 sind gut. Wir müssen aber wachsam sein und uns den Herausforderungen stellen. Wer in einem Wirtschaftsverband arbeitet, muss immer positiv und optimistisch für seine Wirtschaftsgruppe gestimmt sein. Pessimisten haben In der Historie selten etwas voran gebracht.

SN: Vielen Dank für das Gespräch!

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